Acht Jahre nach dem Genozid des IS kämpfen Jesid:innen im Nordirak noch immer jeden Tag gegen die Traumata – und dafür, nicht vergessen zu werden. Fernab von der Aufmerksamkeit der Welt brachen im Mai im Sindschar erneut Kämpfe aus. Wie machen Menschen weiter, die den Genozid überlebt haben?
Manchmal hört das Ende nie ganz auf. Es zieht sich zäh dahin, während ein neuer Anfang weit weg bleibt. Abdullah Shrem (47) breitet Landkarten auf dem Boden seines Wohnzimmers im nordirakischen Dorf Khanke aus. Er fährt mit dem Finger über das Papier, mit dem er jahrelang Leben rettete. Obschon er an vielen dieser Orte noch nie war, kennt er jedes Gebäude. Er blättert durch einen Block mit Skizzen, in denen er einzelne Strassen und Friedhöfe mit einem Lineal vergrössert nachgezeichnet hat. Seit 2014 befreite Abdullah Shrem 399 verschleppte Jesid:innen aus den Fängen des sogenannten Islamischen Staats (IS).
Mit seinem akkuraten Haarschnitt und dem gebügelten Hemd wirkt Shrem eher wie ein Büroangestellter als jemand, der mit IS-Terroristen via Telegram Preise für jesidische Sexsklavinnen verhandelte. Mittlerweile sind seine Karten nutzlos, die Telegram-Chats inaktiv. Die Techniken, mit denen er früher den IS austrickste, funktionieren bei den verschiedenen bewaffneten Gruppen, die seit 2019 das Machtvakuum nach dem Abzug des IS auffüllen, nicht mehr.
Doch er kann seine Suche nicht beenden. Bis heute gelten immer noch 2719 Menschen als vermisst. Deshalb telefoniert Shrem auch an diesem Morgen Ende Mai mit Kontaktpersonen in Syrien, die Informationen über einen kleinen Jungen haben. «Jede weitere Person, die ich heraushole, motiviert mich weiterzumachen», sagt er. Das letzte Mal, als er jemanden befreite, war vor zweieinhalb Jahren.
Ganzer Text in der Wochenzeitung WOZ (PDF) und online auf woz.ch.
Fotos: Philipp Breu